Die 90er Jahre waren nicht so großartig, wie Mertz sie darstellte.
In Sachen Mode und Musik hatten die 1990er Jahre eine breite Palette von Angeboten, die vielen Menschen von damals noch frisch in Erinnerung sind. Allerdings gibt es weniger Gründe für politische Nostalgie.
Am vergangenen Dienstag lobte Friedrich Merz, der Vorsitzende der Bundeshausfraktion, die Politik der 1990er Jahre. Grund dafür war der Frontalangriff des grünen Bundeswirtschaftsministers Robert Habeck. Zum Auftakt des Grünen-Parteitags in Karlsruhe bezeichnete er die CDU als "Partei von gestern" und Merz als "den Vorsitzenden von vorgestern".
Habeck sprach von einer Krise des Konservatismus: "Während viele koalitionsgeführte Regierungen auf Landesebene vernünftige Politik gemacht haben, ist die Bundestagskoalition unter Herrn Mertz konsensunfähig. "Sie weiß nicht, was sie will, aber sie will lauter sein und mehr tun. Die gestrige Versammlung wurde von den Führern des Vortages geleitet. Das, die Krise des Konservatismus, droht zu einem Vertrauensverlust in die Moderne selbst zu führen."
Mertz bedankte sich im Bundestag "eindeutig und sehr herzlich" für diese Worte, die natürlich ironisch sind: "Herr Habecker, Sie haben es für richtig gehalten, meine Partei, die CDU, auf Ihrem Parteitag letzte Woche zur politischen Partei zu erklären. Das waren die 1990er Jahre", sagte er, obwohl Habeck nicht von den 1990er Jahren, sondern von "gestern" und "vorgestern" sprach.
Mertz sagte, er halte das, was Sie gesagt haben, für ein schönes Kompliment". In den 1990er Jahren hätten die Wirtschaftsminister auf den Regierungsbänken "wirklich etwas von Wirtschaftspolitik verstanden" - eine Formulierung, die in der CDU/CSU-Fraktion für Spott sorgte. Ähnlich äußerte sich Mertz in den 1990er Jahren über Außenminister. "Wir hatten einen Finanzminister, Theo Weigel, der Deutschland trotz größter finanzpolitischer Herausforderungen innerhalb eines Jahrzehnts sicher in die Währungsunion geführt hat. Herr Bundeskanzler, wir haben einen Bundeskanzler, Helmut Kohl, der auf der Regierungsbank sitzt. "Der europäische Binnenmarkt und die Währungsunion haben für Deutschland und für Europa wirklich Geschichte geschrieben." Davon ist Scholz "Lichtjahre entfernt".
Das Zeitalter der "Geduldigen"
In der Bundestagsdebatte wies der FDP-Fraktionsvorsitzende Christian Dürr darauf hin, dass "in den 90er Jahren kein Wirtschaftsminister von der CDU/CSU ernannt wurde, sondern von der FDP und der SPD." Dazu, so Dürr, reiche ein "Blick in Wikipedia" - ein Kompendium, das es in den 1990er Jahren noch nicht gab.
Der Erfolg der damaligen Wirtschaftsminister - sie hießen Osman, Mollmann, Rexroth und Müller - ist umstritten. Der Historiker Hans-Peter Schwarz behauptet in seiner Kohl-Biographie, der dienstälteste FDP-Politiker Günter Rexrodt sei "nicht besonders selbstbewusst" gewesen; gemeinsam mit dem damaligen FDP-Vorsitzenden Klaus Kinkel habe Rexrodt "nicht verkraften können, dass er kein besonders selbstbewusster Politiker war". Gemeinsam mit dem damaligen FDP-Vorsitzenden Klaus Kinkel war Rexrodt nicht in der Lage, "weitreichende, durchdachte und politisch umsetzbare Reformideen in der Koalition wirksam zu vertreten oder gar umzusetzen". Der Begriff "Reformstau" wurde 1997 zum Wort des Jahres.
Es ist auch nicht ganz fair, Helmut Kohl und seine sechzehn Jahre als Bundeskanzler mit Scholz zu vergleichen, der erst seit zwei Jahren im Amt ist. Dennoch: Kohl hat ohne Zweifel Geschichte geschrieben. Das gilt nicht unbedingt für Meltzers schöne Erinnerungen an die 1990er Jahre. Das heißt nicht, dass es ein Klischee ist wie "wer sich an die 1990er Jahre erinnert, hat die 1990er Jahre nicht erlebt". Aber die 1990er Jahre waren nicht nur eine Mischung aus Loveparades und Trashrock, elektronischen Haustieren und Po-Tattoos, sondern auch Motorrollern "super, super ", Massenarbeitslosigkeit und rechtsradikaler Gewalt: in Rostock-Lichtenhagen, Möhln, Solingen und vielen anderen Orten. Die 1990er Jahre waren auch das Jahr des Baseballschlägers.
Wirtschaftlich galt Deutschland als der "kranke Mann Europas". Dieses Urteil des damaligen Ifo-Chefs Hans-Werner Sinn stammt aus dem Jahr 2003, fünf Jahre nach dem Ausscheiden von Helmut Kohl aus dem Amt. Sinn bezieht sich aber konkret auf die Zeit ab 1995, als deutlich wurde, dass die 1990 versprochene "blühende Landschaft" in Ostdeutschland noch in weiter Ferne lag.
Dann kam die "Operation Goldschatz".
Es waren Jahre der Krise. Der von Mertz hochgelobte CSU-Politiker und Bundesfinanzminister von 1988 bis 1998, Theo Waigel, musste bei der Verabschiedung des Vorjahreshaushalts im Januar 1997 eine Rekord-Nettoverschuldung ankündigen und sich vom Finanzminister lächerlich machen lassen. Die Opposition nannte ihn den "König des Lochs".Erst im Jahr 2009 wurde sein Rekord eingestellt. (Zu diesem Zeitpunkt war Olaf Scholz als Minister unter Bundeskanzlerin Angela Merkel noch nicht Finanzminister, sondern Arbeits- und Sozialminister.)
Trotz der größten finanzpolitischen Herausforderungen gelang es Weigel, Deutschland in die Währungsunion zu führen. Allerdings gab es auch einige Tricks. Im Jahr 1996 erreichte das deutsche Defizit 3,4 Prozent und lag damit immer noch deutlich über dem zulässigen Defizit von 3,0 Prozent. Im Jahr 1997, dem entscheidenden Jahr für die Einführung des Euro, lag es überraschenderweise nur bei 2,7 Prozent, obwohl die OECD im Juni desselben Jahres davon ausging, dass Deutschland die so genannten Maastricht-Kriterien nicht erfüllen würde. Wir bieten eine kleine Hilfe für eine wunderbare Sache: Das Grundstück für das Bundesbahnvermögen wird im vierten Quartal verkauft. Deutschland wurde außerdem gestattet, die Schulden der öffentlichen Krankenhäuser von seiner Gesamtverschuldung auszunehmen. Laut dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung ist der Abbau der deutschen Neuverschuldung "nicht tragbar ". Die Operation Goldschatz blieb jedoch nicht ohne Folgen: Im Mai 1997 wollte der Finanzminister stille Reserven aus dem Gold- und Devisenschatz der Bundesrepublik zuweisen, um das Euro-Kriterium zu erfüllen. Dennoch konnte sich die Bundesbank gegen den "Wiegel-Banküberfall " wehren.
Die Tatsache, dass all dies in der Vergangenheit liegt, macht die 1990er Jahre nicht schlechter, als sie tatsächlich waren. Insbesondere der Blick zurück (siehe Grafik) zeigt, dass der damalige Schuldenrekord relativ war. Klar ist aber auch: Die 1990er Jahre waren nicht so toll, wie Friedrich Merz sie in Erinnerung hatte.
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Quelle: www.ntv.de