Bericht zum Klimawandel - Diese fünf Wendepunkte könnten die Krise ernsthaft verschlimmern
Eine gängige Metapher dafür, wie Menschen auf die globale Erwärmung reagieren, ist der Frosch im Topf. Der Legende nach bemerkt der Frosch es lange Zeit kaum, wenn der Topf langsam erhitzt wird. Bis ihn eine tödliche Überhitzung irgendwann daran hinderte, aus der Badewanne zu springen. Es gibt auch ein düsteres Bild des Klimawandels, der scheinbar langsam vor sich geht, irgendwann aber enorme Auswirkungen hat.
Einige dieser Folgen können sogar eine sich selbst verstärkende Dynamik erzeugen: Experten gehen davon aus, dass viele Elemente des Erd- und Klimasystems so kritisch und instabil sind, dass sie relativ schnell „umkippen“ und regelrechte Dominosteine im Klimasystem auslösen könnten. Dominoeffekt – tiefgreifend und möglicherweise irreversible Folgen für Ökosysteme und Menschen.
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HIER ANMELDEN Der kürzlich veröffentlichte Global Tipping Points Report listet diese kritischen „Tipping Points“, auch Tipping-Faktoren genannt, auf. Unter der Leitung der University of Exeter im Vereinigten Königreich sind mehr als 200 Forscher aus 26 Ländern an dem Großprojekt beteiligt, das vom Bezos Earth Fund des Amazon-Gründers Jeff Bezos mitfinanziert wird. Der Bericht ist möglicherweise die bislang umfassendste Analyse von Wendepunkten.
Wie ein Schneeball, der eine Lawine verursacht
Die Gefahr bei Kipppunkten besteht darin, dass sie sich nicht nur selbst verstärken, sondern auch miteinander interagieren, sich gegenseitig beschleunigen und antreiben, wie ein Schneeball, der langsam über die Kante eines Abhangs rollt, an Geschwindigkeit gewinnt und noch mehr Schnee mit sich zieht. Dann kommt der Schneeball, der schließlich eine Lawine auslöst.
Der Bericht listet 25 Ablagerungselemente im Erdsystem auf. Fünf von ihnen könnten bei der derzeitigen globalen Erwärmung zusammenbrechen. Es könnte Korallenriffe so schnell wie möglich treffen, und zwar innerhalb weniger Jahre: „Schon heute, bei 1,2 Grad globaler Erwärmung, könnten Korallenriffe in den Tropen zusammenbrechen“, erklärt Jonathan Donges vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung. PIK). , einer der Hauptautoren des Berichts, bei einer Pressekonferenz im Deutschen Wissenschaftsmedienzentrum.
Wenn die globale Erwärmung durchschnittlich 1,5 Grad erreicht, was sogar den Zielen des Pariser Klimaabkommens entspricht, könnte ein großer Teil der Korallenriffe vollständig absterben. Bei einer Erwärmung um 1,5 Grad würden auch weite Teile nördlicher Nadelwälder, tropischer Küstenmangroven und ozeanischer Seegraswiesen instabil und möglicherweise dauerhaft geschädigt, so die Schlussfolgerung der Autoren. Ab etwa 2 Grad steht auch der Amazonas-Regenwald kurz vor dem Zusammenbruch und ein Großteil der antarktischen Eisdecke könnte schmelzen.
500 Millionen Menschen werden von Überschwemmungen betroffen sein
Die Folgen wären katastrophal: Das Abschmelzen der antarktischen Eisdecke könnte in diesem Jahrhundert zu einem Anstieg des Meeresspiegels um zwei Meter führen, wodurch rund 500 Millionen Menschen in Küstengebieten regelmäßigen Überschwemmungen ausgesetzt wären. Veränderungen in den Hauptströmungen des Atlantiks könnten das Wetter in Europa stören und zu mehr Dürren und Ernteausfällen führen.
Auch gesellschaftliche Wendepunkte zeichneten sich ab: Schwere Folgen des Klimawandels bergen auch das Risiko einer gesellschaftlichen Polarisierung und Radikalisierung, einer Zunahme psychischer Erkrankungen oder des Ausbruchs gewaltsamer Konflikte, heißt es in dem Bericht. Andererseits kann es jedoch auch zu positiven Dumpingeffekten kommen, insbesondere im sozialen Bereich: Ab einem bestimmten Punkt verbreiten sich klimafreundliche Technologien und Verhaltensweisen schneller und tragen beispielsweise dazu bei, den Ausstoß von Treibhausgasen zu reduzieren
„Gesellschaftliche Kipppunkte können einem ähnlichen Muster folgen wie Kipppunkte des Erdsystems, daher ist auch ein Kaskaden- oder Dominoeffekt möglich“, sagte Caroline Zimm vom International Institute for Applied Systems Analysis in Laxenburg, Österreich. Zimm ist die Hauptautorin der Kapitel über die Gesellschaft und positive Wendepunkte.
Positive Beispiele für Elektrofahrzeuge
Erneuerbare Energiequellen hätten einen Wendepunkt erreicht, da sie zunehmend kosteneffektiver und teilweise billiger als Öl, Gas oder Kohle würden – die wichtigste Voraussetzung für ihre weitere flächendeckende Nutzung, heißt es in dem Bericht. Ein weiteres Beispiel für einen positiven Dominoeffekt seien Elektrofahrzeuge, sagte Zimm. Mit zunehmender Verbreitung steigt auch der Bedarf an Batterieforschung und -innovation. „Das senkt die Kosten, nicht nur bei Elektrofahrzeugen, sondern auch bei erneuerbaren Energien und deren Speicherung.“ Auch Windparks beispielsweise setzen auf effiziente, kompakte Speichertechnologien, die den bei Schwachwind erzeugten Strom „zwischenspeichern“ sollen Wetterverhältnisse.
Allerdings sei dieser positive Kippeffekt nicht im luftleeren Raum entstanden, sondern das Ergebnis politischer Entscheidungen, sagte Zim. Ein aktuelles Beispiel ist Norwegens Durchbruch bei Elektrofahrzeugen. Die norwegische Regierung bietet seit den 1990er Jahren gezielte Anreize für den Kauf von Elektroautos: Im Laufe der Jahre hat sie die Mehrwertsteuer auf Elektroautos gesenkt, den Kauf von Elektroautos subventioniert und eine gut funktionierende Ladeinfrastruktur aufgebaut. Allein zwischen 2015 und 2022 ist die Zahl der öffentlichen Ladestationen bundesweit um mehr als 300 % auf über 24.000 gestiegen.
Erst 2016 erholte sich der norwegische Markt für Elektrofahrzeuge deutlich. Aber dann explodierte er wirklich. Auf norwegischen Straßen fahren immer noch deutlich mehr Autos mit Verbrennungsmotor als Elektroautos. Doch bis Ende 2022 wird der Anteil von Elektrofahrzeugen an Neuwagen stolze 80 % erreichen, während er in Deutschland nur etwa 25 % beträgt. Norwegen erlebt derzeit einen klassischen Dominoeffekt, ausgelöst durch abgestimmte politische Entscheidungen.
Das Konzept des Wendepunkts ist nicht unumstritten
Die Autoren des globalen Berichts erkennen jedoch an, dass viele Forschungsfragen unbeantwortet bleiben, insbesondere in Bezug auf soziale Neigungseffekte und deren Rückwirkungen auf den Klimawandel. Das allgemeine Konzept der Kipppunkte ist nicht unumstritten. Wann sich komplexe Systeme wie das Amazonas- oder Antarktis-Eis immer schneller verändern werden und inwieweit solche Veränderungen tatsächlich unumkehrbar sein werden, lässt sich derzeit nicht mit Sicherheit vorhersagen. Gerrit Lohmann forscht am Alfred-Wegener-Institut/Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven und war an diesem Bericht nicht beteiligt. Neben den vielen Unsicherheiten bei der Festlegung konkreter Kipppunkte kritisierte er deren völlig zukunftsorientierten Ansatz: „Ich finde dieses Konzept hilfreich, um langfristige Stabilitätseffekte zu verstehen. Andererseits suggeriert dieses Konzept, dass man in Sicherheit lebt.“ sinnvoll, „wenn bestimmte Schwellenwerte unterschritten werden“.
Doch gerade wenn es um extreme Wetterereignisse wie die Dürre oder Überschwemmungen im Aaretal geht, müssen sich die Menschen damit auseinandersetzen: „Wir sind eigentlich schon mitten im Klimawandel. Extreme Wetterereignisse nehmen zu, bei uns aber noch nicht.“ So etwas wie das antarktische Eis habe man erlebt. Deshalb müsse man bei der Kommunikation von Kipppunkten vorsichtig sein, „um nicht den Eindruck zu erwecken, dass wir uns auf einem sicheren Weg bis unter 2 Grad befinden.“
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Quelle: www.stern.de