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„Europas Asylsystem ist zusammengebrochen“

Experten aus Flandern interviewt

Ein griechischer Grenzschützer beobachtet die türkische Seite am anderen Ufer des Flusses Ebros..aussiedlerbote.de
Ein griechischer Grenzschützer beobachtet die türkische Seite am anderen Ufer des Flusses Ebros..aussiedlerbote.de

„Europas Asylsystem ist zusammengebrochen“

Im Zuge der Bund-Länder-Vereinbarung dämpfte Hans Vorländer, Vorsitzender des Migrationsbeirats, die Erwartungen: Eine Kürzung der Leistungen für Asylbewerber werde den Migrationsdruck nicht verringern. Auch Drittstaatenverfahren steht der Wissenschaftler skeptisch gegenüber. Er hielt die anderen Einstellschrauben für wichtiger.

ntv.de: Seit einigen Wochen erleben wir eine hitzige Migrationsdebatte. Ist es ein produktiver Ideenwettbewerb, den Sie beobachten, oder die Produktion leerer Worte?

Hans Vorländer: Auf jeden Fall steht die Politik unter großem Handlungsdruck. Die öffentliche Debatte und die gegensätzlichen Vorstellungen über mögliche Lösungen zur Einwanderungsbeschränkung bilden einen Rahmen hoher Erwartungen. Man versucht, diese Erwartungen zu erfüllen – wohlwissend, dass einzelne Vorschläge die zusätzlichen Versprechen nicht einhalten werden.

Sie sind Vorsitzender des Einwanderungsexpertenausschusses. Wird die Wissenschaft Gehör finden oder wird die politische Debatte aus den Fugen geraten?

Viele politische Akteure suchen Rat in der Wissenschaft, aber die Wissenschaft kann nur beraten. Politiker müssen Entscheidungen treffen und die Akzeptanz ihrer Entscheidungen in der Bevölkerung gewinnen.

Am Tag nach der Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) durften Sie vor der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion sprechen. Was haben Sie den Abgeordneten der wichtigsten Regierungsparteien gesagt?

Ich rief zu Realismus und Pragmatismus auf und sprach über verschiedene Stellschrauben, die überall zu einer Verringerung der irregulären Migration führen könnten. Ich weise auch darauf hin, wo Einwanderungs- und Integrationsmanagement wirksamer sein könnte, beispielsweise im Hinblick auf die Arbeitsmarktintegration. Wir wissen, dass die Aufnahme von Einwanderern maßgeblich davon abhängt, ob diese Menschen schnell für ihren Lebensunterhalt sorgen können. Der andere Aspekt liegt auf EU-Ebene: Das europäische Asylsystem ist zusammengebrochen. Die derzeit verhandelten Reformen müssen einen neuen Weg finden. Dies betrifft unter anderem die theoretisch weiterhin gültige Rückübernahme in Ländern, in denen Menschen erstmals EU-Boden betreten. Es betrifft auch Asylverfahren an den Außengrenzen der EU oder in anderen Ländern.

Lassen Sie uns die folgenden Punkte noch einmal durchgehen: Was muss das Einwanderungsmanagement besser machen?

Die Hauptverantwortung liegt hier bei der Stadtverwaltung. Allerdings lassen sich unterschiedliche Zuständigkeiten in der Verwaltungspraxis nicht immer reibungslos verbinden. Jobcenter, Ausländerbehörden, Wohnungsunterkünfte, Kindertagesstätten und Schulen: Dies erfordert einen komplexen Abstimmungsprozess. Darüber hinaus mangelt es an Digitalisierung. Viele Behördengänge müssen von den Betroffenen selbst erledigt werden. Darüber hinaus benötigen Länder und Kommunen eine verlässliche Finanzierung. Die Bundesregierung hat sich nun verpflichtet, den Bundesstaaten Kopfpauschalen zu zahlen. Die Staaten müssen dafür sorgen, dass die Mittel bei den Kommunen ankommen und sie ihr Personal solider und konsequenter einsetzen können. Auch die weitere Digitalisierung ist im Beschluss des Ministerpräsidentenrates vorgesehen. Von der Erstaufnahme bis zur Arbeitsmarktintegration ist dies dringend erforderlich.

Mangelnde Digitalisierung ist ein häufiges Problem der deutschen Regierung.

Ich möchte kein Urteil fällen, aber die Verfahren sind in der deutschen Regierung besonders gut. Die Welt der Migration und Konvergenz ist komplex. Wenn die Arbeit händisch erledigt wird und Dokumente per Post von einer Behörde zur anderen verschickt werden, verlängert sich die Zeit für jede Entscheidung – nicht nur im Asylverfahren. Dies gilt auch für die Anerkennung von Qualifikationen und den Einstieg in den Arbeitsmarkt.

Das ist also auch Zentralisierung und Koordination in einem föderalen System?

Die Bundesregierung ist für die Einwanderungskontrolle verantwortlich, aber Staaten und Kommunen müssen sie durchsetzen. Als Bundesbehörde ist das Bundesamt für Migration (BAMF) zuständig für Themen wie Sprach-, Orientierungs- und Integrationskurse. Dann müssen sie aber durch die Stadt vermittelt werden. Diese Kurse werden von vielen verschiedenen Anbietern angeboten. Der Koordinationsbedarf ist groß. Daher kann eine gemeinsame IT-Plattform, wie sie im MPK-Beschluss vorgesehen ist, ein wirksamer Hebel sein.

Sie haben auch über Rückübernahmen gesprochen. Deutschland hat viele Menschen aufgenommen, für die eigentlich andere Länder verantwortlich waren, weil es dort zum ersten Mal EU-Boden betreten hat. Allerdings behindern diese Außengrenzländer diesen Prozess. Was sollte die Bundesregierung tun?

Rückübernahme sollte die Regel im Dublin-Kodex sein. Aber wir sehen, dass die Zahl der Asylverfahren in Deutschland und Österreich viel höher ist als in Ländern wie Italien. So wie Rom niemanden aus Deutschland zurücknehmen würde, so würde Deutschland niemanden aus Italien zurücknehmen. Das alte Dublin-System funktionierte nicht mehr und Deutschland konnte nur begrenzten Druck ausüben, um sicherzustellen, dass andere Länder ihren Beitrag leisteten. Die Reform des Gemeinsamen Asylsystems versucht, diese Situation zu ändern und den Solidaritätsmechanismus auf eine neue Grundlage zu stellen.

In Deutschland gibt es skeptische Stimmen gegenüber Reformen, etwa bei der Außenhilfe. Grenzformalitäten für Menschen, die kaum Bleibechancen haben. Was passiert in der Praxis mit Menschen, die bei Verfahren an der Außengrenze abgewiesen werden, aber nicht in ihr Herkunftsland zurückkehren können? In Deutschland werden sie grundsätzlich geduldet, bleiben aber bei Verfahren an der Außengrenze auf unbestimmte Zeit in geschlossenen Einrichtungen.

Die Verfahren an den Außengrenzen unterscheiden sich kaum von den Verfahren an den Außengrenzen. Das Land, das als erstes Aufnahmeland fungiert, muss es bereits umsetzen. Beschleunigte Verfahren müssen außerdem über rechtliche Absicherungen verfügen und eine unabhängige Verfahrensberatung bieten. Was mit Menschen ohne Obdach passiert, ist unklar. Hierzu ist eine Recyclingvereinbarung mit dem Herkunftsland erforderlich. Menschen einfach in ein anderes Drittland zu schicken, das sich bereit erklärt, sie aufzunehmen, ist schwierig, da die EU-Länder auch die Verantwortung haben, die Menschenrechte dieser Menschen zu schützen, sobald sie EU-Boden betreten. Nichts davon lässt sich über Nacht bewerkstelligen und wird auch nicht zu einem raschen Rückgang der Einwanderung führen.

Nach der MPK-Entscheidung soll sogar geprüft werden, ob Deutschland unabhängig von der EU Drittstaatenverfahren etablieren kann.

Dies ist unter bestimmten Voraussetzungen rechtlich möglich, allerdings muss der Staat zuvor seine Bereitschaft dazu erklären. Dann benötigen Sie die entsprechende Infrastruktur und Logistik.Das Land muss auch unsere Verfahrensstandards übernehmen oder die internationale Flüchtlingsorganisation IOM oder das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR müssen das Recht auf Schutz prüfen. Es ist jedoch unklar, was mit denjenigen geschieht, deren Anträge abgelehnt werden.

Im sogenannten Ruanda-Modell sollten andere Länder fernab der EU eine Gebühr für die Aufnahme von Migranten erheben. Ist es möglich?

Die Idee besteht darin, Asylsuchende direkt in Länder zu fliegen, mit denen sie eine entsprechende Zusammenarbeit haben, und sie dort dauerhaft umzusiedeln. Dies ist auch die ursprüngliche Absicht der britischen Regierung. Allerdings verbot der Oberste Gerichtshof des Vereinigten Königreichs die Abschiebung von Menschen nach Ruanda, weil sie dort unsicher waren. Dänemark hat es bisher versäumt, einen ähnlichen Antrag zu stellen. Die Unterbringung in Drittstaaten ist sehr aufwändig und nicht kurzfristig umsetzbar. Sie stehen vor dem gleichen Problem wie bei einem Drittstaaten-Asylverfahren: Was passiert mit denen, denen kein Schutzstatus zuerkannt wird? Es gibt auch Fragen rechtlicher Natur und der Unterbringung.

Gesetze können geändert oder ignoriert werden, wie der britische Premierminister Rishi Sunak in Bezug auf die Europäische Menschenrechtskonvention erklärte. Was spricht dagegen?

Theoretisch ist alles möglich, auch die Renationalisierung und die Abschaffung des gesamten europäischen Asylsystems. Der Einwanderungsdruck bleibt jedoch bestehen. Wir empfehlen dringend, in den Bereichen Migration und Integration eine regelbasierte Ordnung einzuhalten. Ziel muss es sein, die humanitäre Ausrichtung mit dem Migrationsmanagement zu koordinieren. Das europäische Asylsystem mag kaputt sein, aber es funktioniert schon seit langem so. Es gibt auch Stellschrauben: Ich denke über Migrationsabkommen und Partnerschaften mit Drittstaaten nach, durch die eine geordnete Migration erreicht werden kann. Schließlich besteht auch in Deutschland ein hoher Bedarf an Fachkräften.

Bundes- und Landesregierungen einigten sich außerdem auf Leistungskürzungen. Asylbewerber erhalten die vollen Staatsbürgerschaftsleistungen erst nach längerer Zeit. Werden diese Maßnahmen Deutschland als Einwanderungsziel weniger attraktiv machen?

Nr. Untersuchungen zeigen, dass Sozialleistungen nicht der entscheidende Faktor sind. Wichtiger sind das Gefühl von Sicherheit, finanzieller Stärke, Möglichkeiten zum Abschluss rechtlicher Verfahren und Jobaussichten. Wichtig ist auch, ob es bereits eine entsprechende Diaspora aus dem Herkunftsland, also eine bereits bestehende Gemeinschaft, gibt. Der vereinbarte Wechsel zu analogen Diensten und allgemein niedrigeren Servicegebühren änderte nicht viel. Wer die Debatte um teure Sozialleistungen überwinden will, muss die Menschen so schnell wie möglich in die Arbeit bringen.

Dänemarks Einwanderungspolitik wurde an vielen Stellen in der Debatte in Deutschland erwähnt. Kann ich hier Elemente kopieren?

Dänemark ist nicht an bestimmte Normen des Dublin-Systems gebunden, was die Situation anders macht. Dänemark prüft Aufenthaltsgenehmigungen nach einer gewissen Zeit, bevor es Menschen erneut z. B. nach Syrien abschiebt, was jedoch rechtlich sehr umstritten ist. Die ergriffenen Maßnahmen dienten in erster Linie der Abschreckung. Auch Maßnahmen wie das sogenannte „Schmuckgesetz“ (also die Beschlagnahmung von Eigentum bis zu einem bestimmten Wert) sind keine entscheidenden Stellschrauben. Dänemark hat auch eine überschaubarere Grenze. Deutschland verfügt über größere Grenzgebiete und Grenzgebiete und ist auf den Handel aus dem Schengen-Raum angewiesen. Auch das ist ein Argument gegen eine dauerhafte Festsetzung der Grenzkontrollen.

Sebastian Huld spricht mit Hans Vorländer

Quelle: www.ntv.de

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