Kann Atomkraft den Klimawandel stoppen?
Viele Länder setzen im Kampf gegen den Klimawandel auf neue Kernkraftwerke. Ist Deutschland also auf dem falschen Weg? Können die CO2-Emissionen allein durch den großtechnischen Ausbau der Kernenergie ausreichend reduziert werden?
Während Deutschland im vergangenen Frühjahr seine letzten drei Atomkraftwerke abgeschaltet hat, sind andere Länder weit davon entfernt, aus der Atomkraft auszusteigen. Während der COP28-Klimakonferenz haben 22 Länder gerade ihre Absicht angekündigt, ihre Kernenergiekapazität bis 2050 zu verdreifachen. Dazu gehören neben den USA auch 14 europäische Länder wie Frankreich und die Niederlande. Die Unterzeichner sehen in der Kernenergie eine Schlüsselrolle, um die globalen Netto-Treibhausgasemissionen auf Null zu senken und das 1,5-Grad-Celsius-Ziel erreichbar zu halten.
Der US-Klimabeauftragte John Kerry betonte bei dem Treffen, dass ohne Kernenergie eine Klimaneutralität bis 2050 unmöglich sei. „Die meisten Wissenschaftler“ würden zustimmen, sagte er im September. Das ist etwas übertrieben. Tatsächlich ist die Rolle der Kernenergie bei der Bekämpfung des Klimawandels wissenschaftlich umstritten.
„Gesünder“ als Kohlekraftwerke
Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) stimmt Kerry voll und ganz zu. „Die Kernenergie hat die Treibhausgasemissionen seit Beginn des 21. Jahrhunderts um etwa 30 Gigatonnen reduziert“, erklärt sie. Es kann auch zum Kampf gegen den Klimawandel in Bereichen über die Stromerzeugung hinaus beitragen. Als Beispiele nennt die IAEA die Dekarbonisierung von Fernwärme, Entsalzung, Industrieprozessen und Wasserstoffproduktion.
Das renommierte Massachusetts Institute of Technology (MIT) sieht zumindest große Probleme darin, Atomkraftwerke durch Kohlekraftwerke zu ersetzen. Ihr Ziel ist jedoch die Luftverschmutzung. Laut einer Studie des Instituts würde die Abschaltung aller Reaktoren, die etwa 20 % des US-Strombedarfs decken, zu etwa 5.200 vorzeitigen Todesfällen führen.
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Aber auch zur Rolle der Kernenergie im Kampf gegen den Klimawandel hat das MIT eine sehr klare Position bezogen: Im Vergleich zu Wind- oder Solarenergie ist die Kernenergie nicht vom Wetter abhängig und kann daher genau dann Strom erzeugen, wenn er benötigt wird. Während große Kraftwerke zur Grundlastversorgung beitragen, sind neuere Konzepte auf schnelles Ein- und Ausschalten ausgelegt. Dies bedeutet, dass sie in der Lage sind, die „verfügbare Leistung“ bereitzustellen, die benötigt wird, wenn der Energiebedarf am höchsten ist.
Mit „neuen Designs“ bezieht sich das MIT auf kleine modulare Reaktoren (Small Modular Reactors: SMRs). Sie können in Fabriken hergestellt und dann am Einsatzort zusammengebaut werden. Dies kann beispielsweise eine Fabrik oder ein Fernwärmesystem sein. Die Technologie ist nicht wirklich neu, sie geht auf die Antriebe von Kriegsschiffen und U-Booten in den 1950er Jahren zurück.
Keine Alternative, aber eine mögliche Ergänzung
Das MIT erklärt auf seinem Klimaportal, dass Kernkraft, da sie auch eine gute Quelle für CO2-freie Wärme ist, ein direkterer Ersatz für fossile Brennstoffe ist als andere kohlenstoffarme Energiequellen. Andererseits ist der Bau von Kernkraftwerken – insbesondere von kleinen – deutlich teurer als Wind- oder Solaranlagen. Daher ist das MIT davon überzeugt, dass die effizienteste Nutzung der Kernenergie als Teil eines kohlenstoffarmen Energiemixes erfolgt.
Zu ähnlichen Ergebnissen kam dieses Jahr auch die Eidgenössische Technische Hochschule Zürich (ETH). Im Mai ermittelte ein Expertenteam der Eidgenössischen Technischen Hochschule anhand von Modellen, dass die Schweiz bis 2050 fossilfrei werden könnte, wenn erneuerbare Energien im In- und Ausland schnell genug entwickelt werden und Strom effektiv mit den Nachbarländern gehandelt wird . Stromversorgung ist vorhanden.
Zur Rolle der Atomkraft schreiben die Zürcher Wissenschaftler: „Solange bestehende Kraftwerke in Betrieb bleiben, können sie den Übergang zu einem fossilfreien Energiesystem unterstützen.“ Allerdings mangele es an politischen Rahmenbedingungen sowie an Kosten und Zeitaufwand Aufgrund des Baufortschritts ist es schwierig zu berechnen, was bis 2050 erreicht werden wird. „Vorher war es fast unmöglich, neue Reaktoren zu bauen.“
Lückenverkleinerung
Rund fünf Monate später kam eine vom Wirtschaftsverband Economiesuisse in Auftrag gegebene Studie der ETH Zürich zu dem ernüchternden Ergebnis: Die im Gesetz vorgesehenen Ausbauziele für erneuerbare Energien seien eindeutig nicht erreicht worden. Unter anderem werden Solar und Wind bis 2035 30 % weniger Energie liefern als geplant, berichtete die NZZ. Im Winter besteht die Gefahr einer Versorgungslücke von bis zu 10 Terawattstunden (TWh).
Modellrechnungen der Eidgenössischen Technischen Hochschule zeigen: Wenn die vier bestehenden Kernkraftwerke der Schweiz möglichst lange laufen, kann die Lücke weitgehend geschlossen und die Strompreise tief gehalten werden. Die Forscher fanden außerdem heraus, dass der Reaktorbetrieb umso weniger rentabel wird, je mehr erneuerbare Energien entwickelt werden.
Ausbau erneuerbarer Energien priorisieren
Da bestehende Kernkraftwerke nicht in kurzer Zeit hoch- und heruntergefahren werden können, nutzen Wissenschaftler der ETH Zürich dazu auch Neubauten. Die Forscher stellten jedoch fest, dass es fraglich sei, ob dies wirtschaftlich rentabel sei.
Eine Verlängerung der Laufzeiten von Kernkraftwerken allein werde das Versorgungsproblem jedenfalls nicht lösen, sagte Studienleiter Christian Schaffner. Will die Schweiz ihr Netto-Null-Ziel bis 2050 erreichen, muss sie alle fossilen Energieträger ersetzen und den Einsatz erneuerbarer Energien weiter zügig ausbauen.
Auch deutsche Wissenschaftler untersuchen die Rolle der Kernenergie bei der Bekämpfung des Klimawandels. Der Weiterbetrieb von Reaktoren nach dem Ausstieg ist natürlich rein theoretisch. Walter Trohm, wissenschaftlicher Sprecher des Karlsruher Instituts für Technologie, sagte, dass eine Verlängerung der Lebensdauer grundsätzlich sehr kostengünstig sei, da das bestehende System an Wert verliert und nur Produktionskosten anfallen.
Mini-Reaktor ohne Rückgabe
Beim Neubau hat sich das Deutsche Wirtschaftsforschungsinstitut im vergangenen März in einer Analyse mit den von vielen Expansionsländern favorisierten Small Modular Reactors (SMRs) auseinandergesetzt. Dazu gehört auch die von der Europäischen Kommission geplante Industrieallianz. Experten halten diesen „Hype“ für unbegründet. Darüber hinaus sind kleine Reaktoren aufgrund ihrer geringen Leistung wirtschaftlich nicht rentabel. Das beste Beispiel ist das SMR-Kraftwerk mit sechs Mikroreaktoren, das von NuScale Power in Idaho, USA, gebaut wird und voraussichtlich im Jahr 2029 in Betrieb gehen wird. Anfang November wurde das von der US-Regierung geförderte Projekt begraben. Laut Science haben sich die Kosten auf 9,3 Milliarden US-Dollar fast verdoppelt, weshalb sich so viele Investoren zurückziehen.
Nach Angaben des DIW waren im März dieses Jahres weltweit nur sechs SMR-Reaktoren in Betrieb. Sie sind keine wirklichen Beispiele für schnelle Expansion. So ging beispielsweise ein schwimmendes Kraftwerk in Russland mit einer Stromerzeugungskapazität von nur 60 Megawatt (MW) im Jahr 2020 nach 13 Jahren Bauzeit ans Netz. Zum Vergleich: Das bayerische Kernkraftwerk Isar II leistet 3.950 MW. Ein in den 1980er Jahren begonnenes Projekt in Argentinien wurde auf Eis gelegt.
Modernere Nachfolger müssen sich noch beweisen
Obwohl der Weg vom Prototypen bis zur erfolgreichen Großproduktion noch weit ist, sind kleine modulare Reaktoren modernerer Bauart in Planung. Optimistisch müssten Tausende identischer Kernkraftwerke gebaut werden, um rentabel zu werden, sagte das DIW.
„Es wurden günstigere Massenreaktoren versprochen, um die Kosten zu senken, Belege dafür konnten bislang aber nicht erbracht werden“, sagt Christian Retanz. Er ist Direktor des Instituts für Energiesysteme, Energieeffizienz und Energiewirtschaft (ie3) der TU Dortmund.
Nun könnte dies in China möglich sein. Am 6. Dezember gab die China National Nuclear Corporation (CNNC) bekannt, dass das erste kommerzielle modulare Kernkraftwerk auf Basis von zwei gasgekühlten Hochtemperaturreaktoren (HTR-PM) in Betrieb genommen wurde.
Ziel des Kraftwerks Shidaowan in der Provinz Shandong ist es, Kraftstoff effizienter zu nutzen, wirtschaftlicher, umweltfreundlicher und sicherer zu sein. Das Kraftwerk verfügt über eine Erzeugungsleistung von 200 Megawatt, und wie Sie auf dem Bild sehen können, sind Minireaktoren nicht unbedingt klein. Die Bauzeit beträgt 20 Jahre und die Investitionssumme liegt bei rund 16 Milliarden Euro.
Die Kosten sind ein Schlüsselfaktor. Rehtanz hält die Pläne von 22 Ländern, ihre Kernenergiekapazität zu verdreifachen, für „sehr ehrgeizig“. Erneuerbare Energien sind an den richtigen Standorten mittlerweile sehr wettbewerbsfähig. Nimmt man die Kosten geplanter Kernkraftwerke in Europa als Referenz, so kosten diese deutlich mehr. „Das gilt auch, wenn man Speichertechnik oder den Einsatz von Erdgas plus die Abscheidung und Speicherung von Kohlendioxid oder Wasserstoff als Zwischenpuffer betrachtet.“
Erneuerbare Energien mangelt an Investitionen in Kernkraft
Auch Andreas Löschel, der Atomkraft als „eine Technologie zur Erreichung der Pariser Klimaziele“ sieht, geht davon aus, dass die Atomkapazität im Gleichschritt mit der Stromnachfrage wächst. Er sagte jedoch, dass erneuerbare Energien den größten Beitrag leisteten. Der Ausbau der Kernenergie macht heute aus Kosten- und Energieökonomie keinen Sinn.
Walter Tromm hingegen hielt die Expansionsziele nicht für unrealistisch. Er schätzt, dass die Kernenergie bis 2050 25 % der weltweiten Stromproduktion decken wird. Dazu müssen etwa 30 Reaktoren mit einer Leistung von etwa 30 Gigawatt (GW) gebaut werden. Dies sei bereits in den 1980er Jahren geschehen, sagte er.
In diesen Bereich muss viel Geld fließen, und dieses Geld könnte an anderer Stelle verloren gehen. „Ein großer Ausbau der Kernenergie kann nur mit enormer Investitionsförderung eingeleitet werden, die gleichzeitig erhebliche Auswirkungen auf die Investitionssicherheit des Ausbaus anderer Stromerzeugungstechnologien haben wird“, sagte Martin Weberzal. Er ist Professor für Digitale Energiemärkte an der Universität Luxemburg und Mitglied der Abteilung Wirtschaftsinformatik am Fraunhofer-Institut für Angewandte Informationstechnologie (FIT).
Eine uralte Gefahr – aber gibt es eine Zukunft?
„Dies gefährdet insbesondere die erneuerbaren Energiequellen. Daher können wir durch den Ausbau der Kernenergie eine sichere, bezahlbare und nachhaltige Stromversorgung für heutige und künftige Generationen gewährleisten, was Wunschdenken ist.“ Weibelzaar sagte, es gebe auch die Frage der öffentlichen Akzeptanz.
Dabei geht es nicht nur um mögliche Standorte von Kernkraftwerken, sondern vor allem auch um Endlager. Lediglich Finnlands Endlager für hochradioaktive Abfälle wurde gebaut und wird bald in Betrieb gehen. Weberzal wies auch auf die Gefahren der Kernenergie hin. Es kann nicht nur zu Unfällen im Einsatz kommen, sondern auch zu Anschlägen und Übergriffen „in Friedenszeiten und in Kriegszeiten“. Insbesondere der Ausbau kleiner und mittlerer Reaktoren wird die Zahl der möglichen Ziele für Terroristen oder feindliche Staaten erhöhen. Dramatische Steigerung.
Stattdessen könnte strategisches Sicherheitsdenken dazu führen, dass Deutschland wieder neue Atomreaktoren baut. Andreas Löschel sieht darin eine mögliche Abhängigkeit von kritischen Ressourcen. Daher setzen viele Länder in Zukunft auf die Weiterentwicklung dieser Technologie. „Deutschland sollte diese Überlegungen in seiner Forschungspolitik nicht außer Acht lassen, auch wenn der Bau neuer Kernkraftwerke in absehbarer Zeit wahrscheinlich nicht auf der Agenda stehen wird.“
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Quelle: www.ntv.de